K. Čapková u.a.: Unsichere Zuflucht

Cover
Titel
Unsichere Zuflucht. Die Tschechoslowakei und ihre Flüchtlinge aus NS-Deutschland und Österreich 1933–1938


Autor(en)
Čapková, Kateřina; Michal, Frankl
Reihe
Reihe Jüdische Moderne 13
Erschienen
Wien 2013: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
327 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Helena Kanyar Becker

In der Tschechoslowakei hielten sich nach der nationalsozialistischen Machtübernahme vom Januar 1933 bis zum Münchner Abkommen von Ende September 1938 etwa 20 000 deutsche und österreichische Flüchtlinge auf. Die tschechoslowakische Flüchtlingspolitik wird in der Historiographie aufgrund der wohlwollenden Haltung gegenüber den politischen und kulturellen Eliten positiv beurteilt. Kate řina Čapková und Michal Frankl untersuchten jedoch die Behördenpraxis gegenüber den anderen Flüchtlingsgruppen und setzen sich kritisch mit dem Mythos der Tschechoslowakischen Republik (ČSR) als einer Insel der Demokratie und Toleranz auseinander.

Die Flüchtlinge der ersten Stunde, die deutschen Sozialdemokraten, wurden nicht nur von den einheimischen Parteimitgliedern, sondern auch von der Sozialistischen Arbeiterinternationale unterstützt. Ausserdem ist es ihnen gelungen, einen Teil des Parteivermögens über die grüne Grenze zu schmuggeln. Die Spitzenpolitiker und Funktionäre lebten in gesicherten Verhältnissen, die einfachen Parteimitglieder waren in überfüllten Massenlagern untergebracht. Die österreichischen Sozialdemokraten, die nach dem misslungenen Februarumsturz von 1934 in die ČSR flüchteten, hausten in Zeltlagern, die ihre Parteigenossen für sie nrichteten. Auch diese etwa 2000 Schutzbündler fanden eine freundliche Aufnahme. Die meisten emigrierten weiter in die Sowjetunion, wo sie grösstenteils Opfer der stalinistischen Justiz wurden.

Die Flüchtlinge aus der Sowjetunion wurden dagegen in der ČSR generös aufgenommen. Die staatliche Russische Hilfsaktion sorgte für sie nicht nur materiell, es wurde ebenfalls deren Bildung und Kultur unterstützt. Für Flüchtlinge vor dem NS-Regime mussten jedoch Hilfskomitees aufkommen.

Die zahlreichen Intellektuellen, Journalisten und Künstler konnten in der deutschsprachigen Presse oder Theatern mitarbeiten, sie gründeten eigene Periodiken, wie die Arbeiter-Zeitung, Arbeiter-Illustrierte Zeitung, Neue Weltbühne, Neuer Vorwärts, Prager Mittag, Europäische Hefte u. a., die auch regelmässig über die Grenzen gebracht wurden, genauso wie diverse Flugblätter. Im Malik-Verlag publizierte Wieland Herzfelde eine Reihe Exilautoren, sein Bruder John Heartfield stellte aus. Die prominenten Brüder Mann erhielten tschechoslowakische Pässe, obwohl Thomas Mann in Küsnacht und Heinrich Mann in Nizza lebte.

Die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft besassen die sogenannten Repatrianten, die nach der Machtergreifung in Deutschland und nach dem Anschluss in Österreich ihre dortige Existenz aufgeben mussten. Diese Flüchtlinge waren die Einzigen, die die Arbeitsbewilligung in der ČSR automatisch bekamen Die anderen Flüchtlingskategorien durften nicht arbeiten, weil es in der ČSR während der Weltwirtschaftskrise 1 Mio. Arbeitslose gab.

Unerwünscht von Anfang an waren die Kommunisten. Trotzdem gelang es einigen KP-Spitzenfunktionären, wie Walter Ulbricht oder Franz Dahl, dank der Hilfe der einheimischen Partei in Prag zu leben. Die Gestapo versuchte die linken Funktionäre zu entführen oder lockte sie in die Grenzorte, um sie in das Dritte Reich zu verschleppen.

Ähnlich wie in der Schweiz gehörten zu den unerwünschten Flüchtlingen insbesondere die Ostjuden, die ursprünglich aus Polen oder aus Südosteuropa stammten. Sie arbeiteten bis zur Machtübernahme in Deutschland und gehörten zu den ersten Opfern der SA, die sie brutal über die Grenze jagte. Die deutschen Juden galten anfänglich als Rassenverfolgte, hatten einen Anspruch auf provisorische Pässe und eine begrenzte Aufenthaltsbewilligung. Die Hilfskomitees versuchten ihre Ausreise in die Drittländer zu organisieren, weil sich die ČSR als ein Transitland verstand. Eine tragische Wende bedeuteten die Nürnberger Rassengesetze vom September 1935. Seit diesem Zeitpunkt wurden alle Juden als Wirtschaftsflüchtlinge angesehen, die eine ökonomische Konkurrenz darstellten. Auch die sogenannte Rassenschande galt nicht als ein Fluchtgrund. Da die tschechoslowakische Regierung keine internationalen Konventionen über den Flüchtlingsstatus unterschrieben hatte, waren die Nichtarier der Behördenwillkür ausgeliefert. Vor den Ausweisungen ins Dritte Reich konnten sie bloss korrupte Beamten schützen. Die Hilfskomitees verfügten, trotz der internationalen Unterstützung, über zu wenig Geldmittel, um die legalen Ausreisekosten bezahlen zu können.

Die Flüchtlingsvorschriften wurden Mitte 1937 massiv verschärft, als die Aufenthaltsbewilligung nur für acht Bezirke in der Böhmisch-mährischen Höhe erteilt werden sollte. Die Massnahme wurde dank den Protesten der Medien und Hilfskomitees verschoben. Einer der Gründe der Verschärfung der Flüchtlingspolitik war der steigende Druck von NS-Deutschland auf die ČSR.

Schon einige Stunden vor dem Anschluss Österreichs am 12. März 1938 schloss die ČSR als der erste Nachbarstaat die Grenzen. Das Land wurde für die Flüchtlinge zum unsicheren Zufluchtsort und ab dem Herbst 1938 zu einer Falle. Die erste kritische Publikation über die tschechoslowakische Flüchtlingspolitik 1933–1938 belegt deren tragische Entwicklung mit persönlichen Porträts. Čapková und Frankl werteten Archivdokumente in der Tschechischen Republik, in Israel, Deutschland, Österreich, USA und der Schweiz aus sowie die zeitgenössische Presse und Korrespondenz und die sehr zahlreiche Sekundärliteratur.

Zitierweise:
Helena Kanyar Becker: Rezension zu: Kateřina Čapková, Michal Frankl: Unsichere Zuflucht. Die Tschechoslowakei und ihre Flüchtlinge aus NS-Deutschland und Österreich 1933–1938, aus dem Tschechischen von Kristina Kallert. Wien/Köln/Weimar, Böhlau, 2012. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 64 Nr. 1, 2014, S. 188-189.

Redaktion
Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 64 Nr. 1, 2014, S. 188-189.

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